16/03/2004 Texte

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Spanien und die Folgen

"Eine Art Staatsstreich Bin Ladens in Madrid"

Sind die Bomben von Madrid der Auftakt zu weiteren Terroranschlägen in Europa?

Die Anschläge beruhen auf der Doktrin von Al-Kaida und des saudischen Wahabismus. Bei der Ausführung in Spanien handelten die Terroristen allerdings relativ autonom. Sie brauchten keinen konkreten Auftrag von einer Kommandozentrale. Die zwei letzten Anschläge in Istanbul und Madrid haben gezeigt, dass die Terroristen keine absoluten Profis wie etwa am 11. September in New York sind. Sonst hätten sie zum Beispiel die Chips ihrer Handys, aufgrund derer sie aufgespürt wurden, im Ausland und nicht in Spanien gekauft.

Die islamistischen Terroristen verselbstständigen sich also?

Ja, und es ist eine sehr beunruhigende Entwicklung, wenn sich außerhalb von Al-Kaida Ableger bilden, regelrechte Metastasen. Sie handeln in eigener Regie, auf der Basis von Bin Ladens "Lehre", die durch seine Videokassetten verbreitet und erneuert wird. Abgesehen von dieser wahabitisch-takfiristischen Doktrin des Djihad (heiliger Krieg) ist den Terroristen gemeinsam, dass ein Teil ihrer Mitglieder in Afghanistan ausgebildet wurde, um sodann relativ eigenständig zu handeln.

Auch in Europa?

Alle Voraussetzungen sind gegeben: die Doktrin, die Botschaften via Videokassetten, die mehr oder weniger professionellen Fähigkeiten.

Sind US-verbündete Länder wie Italien, Großbritannien oder Polen stärker gefährdet als andere?

Sicher, auch wenn eine lokale Terrorgruppe zum Beispiel auch in Luxemburg einen Anschlag auf die britische Botschaft durchführen kann. Am auffälligsten ist die Eile, mit der sich die Terroristen zum Anschlag in Madrid bekannten. Sie taten dies am Tag des Anschlags selbst, dann einen Tag später und zwei Tage später erneut. Der Grund ist klar: Bin Ladens Leute wollten mitwirken bei der Wahl der neuen spanischen Regierung - und sie haben reüssiert. Wenn man will, hat Bin Laden in Madrid eine Art Staatsstreich bewerkstelligt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Terroristen haben eine Regierung durch eine andere ersetzt.

Sie konnten aber nicht vorhersehen, dass sich die Regierung Aznar vor allem mit ihrer auf die Eta fixierte Desinformationspolitik in die Nesseln setzte.

Das ändert nichts daran, dass die Terroranschläge gegen die proamerikanische Regierung gerichtet waren. Diese hatte in den Umfragen vor den Wahlen vier Prozent Vorsprung; jetzt liegen die Sozialisten mit fünf Prozent vorne. Das ist eine direkte und gewollte Folge der Attentate. Im ersten Bekennerschreiben heißt es, die Völker der mit den Vereinigten Staaten verbündeten Länder sollen - ich zitiere - "Druck auf die Regierungen ausüben, um diese Allianz gegen den Terrorismus und den Islam aufzukünden". Das Ziel wurde hundertprozentig erreicht, wenn die spanische Regierung ihre Truppen wirklich aus dem Irak zurückholt. Das wird andere Islamisten ermutigen, in anderen Ländern zuzuschlagen.

In welchen ?

In dem Communiqué der Bekenner werden einzelne Länder wie Italien als zukünftige Attentatsziele genannt. Der letzte Absatz enthält zudem eine kodierte Nachricht ungefähr des Inhalts: "Der Vorschlag des Bataillons X wurde durch das Zentralkommando gebilligt; wenn der Delegierte eintrifft, werden wir zur Tat schreiten."

In Italien, Großbritannien oder Polen ?

Warum nicht in Japan, Australien oder den Niederlanden? Generell sind alle westlichen und christlichen Länder im Visier, die in den Augen der Islamisten als die heutigen Kreuzfahrer gelten, weil sie zum Beispiel in Afghanistan präsent sind - sogar die Irakkriegsgegner Deutschland oder Frankreich. In Karatschi wurden ja bereits direkt französische Interessen attackiert.

Antoine Basbous (51) ist Direktor des "Observatoriums für arabische Staaten" in Paris. Der in Libanon geborene Politologe ist einer der angesehensten Spezialisten für den arabischen Raum.

OBSERVATOIRE DES PAYS ARABES
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